Mein
Onkel, der olle Stromer
Vor
Jahren besuchte ich meinen Onkel Heribert im betreuten Wohnen – und
ein Abgrund tat sich auf. Vorausschicken muß ich, daß er dort seit
einigen Jahren eine kleine Wohnung im Seniorenzentrum mit seiner
Lebensgefährtin Olga teilte (Tante Irmi hatte er bereits entsorgt –
ja, klingt heftig, aber er war auch eine schlimme Nummer, eine harte
Nuß sozusagen), und Olga hatte es sich auf die Fahne geschrieben,
ihn zu überleben, aus welchen Gründen auch immer. Sie war acht
Jahre jünger, die Chancen schienen gut zu stehen. Aber dann kam
dieser dezente Hinweis von ihr am Telefon, ich sollte mal kommen um
zu schauen, mehr wollte sie nicht sagen.
Es
war der zweite Weihnachtsfeiertag. Ich war bei Onkel Heribert schon
viel gewohnt, wir pflegten die letzten Jahre so einen lockeren
Kontakt, seit ich in den Ruhestand gegangen war, und der nun
Achtundachtzigjährige war auch immer für amüsante Überraschungen
gut. Es war Nachmittag, wir aßen Kuchen, auf dem Adventskranz
flackerten die bläulichen Flämmchen, alles schien gut. Sonderbar
war nur diese kurze Illumination des Christbaumes – also: ich
sollte hinschauen, er steckte den Stecker in die Dose, fragte:
„Gesehen?“ und schon zog er ihn wieder heraus. Nun gut, wir
hatten ja die 4 Kerzen, aber schade, das Tännchen hätte doch
weiterleuchten können an diesem trüben Tag. Und es war doch noch
Weihnachten! Dann stand ein alter Rühmann-Film an, ich hatte eben
die Balkontür wegen des Rauches der Kerzen geöffnet, als mir
auffiel, wie er auf seine Armbanduhr schaute und zackig die
Stromverbindung herstellte, der Film begann punktgenau. (Das hatte
sich übrigens gegenüber früher geändert: Was hatte ich stets
gelacht, wenn er die Tagesschau anmachte, auf die Sekunde und sich
aufregte, wenn die erste Meldung schon lief…“ Die haben wieder
früher begonnen!“ Für mich ein sich garantiert wiederholender
Witz.) Wir schauten jetzt verbissen die alte Komödie, wohl eine
unmißverständliche Bedingung von Olga, obwohl er meinte, den schon
gesehen zu haben und entsprechend unruhig auf seinem Sessel
herumrutschte. Jedenfalls war klar, gleich war er zu Ende, da stand
Onkel Heribert schon neben der Steckdose – exakt mit Beginn des
Abspanns riß er den Stecker raus. Danach erst drückte er den
Schalter am Fernsehgerät, und damit ließ er sich dann Zeit.
Es
setzte so langsam die endgültige Dämmerung ein, aber mein dezenter
Hinweis auf ein wenig erhellende Unterstützung mittels Lampe wurde
schnell übergangen mit: „Geht doch noch!“ Nun ja, an den
Silhouetten erkannte ich, wer sich wo befand. Schwieriger war es für
mich, das Klo, nach innen gelegen, aufzusuchen. Ich hatte den
Schalter für das Licht unbesorgt angeknipst, saß noch nicht
richtig, da ging das Licht aus und er reichte mir eine Laterne
hinein. Die sollte ich mit rausbringen, das machten sie immer so. Nun
tauschte ich, soweit erkennbar, Seitenblicke mit Olga, die hinter
seinem Rücken mit dem Kopf nickte; ‚na, was habe ich gemeint‘
sollte das heißen, und es wurde mir immer mehr bewußt: Wir befanden
uns in einer ganz neuen Dimension. Wir saßen nun um die
unbestreitbar schöne Lichtquelle herum. Als wir den Tisch abräumten,
nein, kein Licht anmachten: die Laterne stellte er seitlich auf die
Arbeitsfläche, wo die Stecker von Toaster, Radio, Kaffeemaschine und
Mixer aufgereiht lagen: vor den Steckdosen. Als ich ihn darauf
ansprach fragte er mich, ob ich es denn nicht in der
Verbrauchersendung gesehen habe: Stecker stets ziehen, sie holen auch
bei nicht eingeschalteten Geräten Strom! Sein Thema wohl, er klang
beschwörend. Er sei geradezu ein Feind dieser unseligen
„Stand-by“-Kontrolllämpchen! Das plättete mich nun doch ein
wenig. „Ja, Waschmaschine, sogar Nachttischlämpchen – alles ohne
direkte Verbindung zum Stromlieferanten!“ es klang aus dem Munde
von Olga tragikomisch. Sein Credo: Erst Stecker ziehen, dann den
Ausschalter. Ich mußte tief durchatmen, damit der Lachanfall sich
löste. Ernüchtert war ich, als ich erkennen mußte, daß er es gar
nicht als Spaß meinte, sondern weiterpredigte, daß es nichts mit
Geiz zu tun habe, selbst den Umweltschutz hatte er nur nachrangig in
seiner Begründung: Es gehe ihm darum, ein Beispiel zu geben für die
anderen Wohneinheiten. Sein Ziel war der geringste Stromverbrauch des
ganzen Blocks. Er liege an zweiter Stelle, gleich nach Wohnung zwölf.
Olga erklärte, diese stehe leer wegen dringender Renovierung. Nur ab
und an werde dort ein elektrisch betriebenes Werkzeug angeschlossen.
Das klang nun mächtig beeindruckend.
Eine
zweite Laterne mit Teelicht war ihr Geschenk für ihn, er soll sich
noch nie so über seine Weihnachtsüberraschung gefreut haben. Ich
stellte mir vor, wie die alten Leutchen, ohne Deckenlampen
einzuschalten, abends mit Laternen herum wandelten. Sie erwähnte,
nicht ohne eine Spur von Spott, daß sie ihm die Fackel, die er
anfangs zum Einsatz brachte, schon hatte austreiben wollen – und
nach dem Zimmerbrand war es ihm auch beschwörend von der
Hausverwaltung nahegelegt worden. Auch dürfe er nicht die Glühbirnen
aus den hauseigenen Lampen entfernen! Offenbar war man hier so
einiges gewöhnt – von Heribert im Besonderen.
Ich
stellte mir vor, er würde mein Haus sehen, diese ganze Technik mit
all den Lichtlein – es wäre zu viel für ihn, mit Sicherheit. Ich
verabschiedete mich. Beim Verlassen des Wohnzimmers erleuchtete ich
noch mal den Weihnachtsbaum. Er kam spornstreichs herbei gehechtet,
ratz, Stecker raus, ich hätte doch den Baum schon gesehen – und es
klang enttäuscht, ob ich denn so gar nichts begriffen hätte. „Ich
wollte ihn nur noch mal sehen“, grinste ich und beendete meinen
Besuch.
Sie
brachten mich mit der Laterne zur Tür, wir verabschiedeten uns und
der Tausch der Blicke mit Olga beinhaltete ihrerseits so ein ‚Ich
laß mich nicht unterkriegen‘ und ich mußte auf einmal süffisant
denken, wenn sie ihn mit Beharrlichkeit bezwungen hatte, also
überlebt – ihr würde wirklich und wahrhaftig ein Licht aufgehen.