Nachlaß
– laß nach
(oder:
Die Rache des verschmähten Dichters)
Nun
stelle ich mir eine kleine Stadt vor – sind Sie dabei? Wenige
Künstler, Kunsthandwerk schon, aber professionelle Musikanten,
nein, nur zwei öffentlich bekannte Malende, ein Bildhauer mit
Rheuma, sonstige Volkshochschulabsolventen für allerlei obskure
Fertigkeiten. Doch – irgendwo in einem Hutzelhäuschen am Ortsrand,
der Ortsdichter, verkannter Schriftsteller, bemühter Autor. Der
einzige ortsansässige Verlag hatte stets abgewiegelt, nein, bloß
nicht, selbst wenn für ihn ein Preis von der Kommune erfunden und
verliehen würde, nein, wirklich nicht. Kein Buch. Niemals! Man hatte
sich im Laufe der Zeit eh auf Informationsheftchen, handliche
Werbebroschüren, großformatige Hochglanzreklamen und so weiter
spezialisiert, Einladungen, Menükarten, Festschriften. Aber Bücher,
das ging früher mal, also wirklich ganz früher, aber heute –
nein, das bedeutet nur enorme Investition – und daß diese wieder
reinkommen: eher wie eine Lotterie, hatte der Verlagschef dem
Bürgermeister erklärt. Es war kein Thema. Der Mann des bedruckten
Papiers hatte sich zu schützen gewußt.
Der
Ortsautor verstarb in hohem Alter, keine Nachkommen, keine
Angehörigen, ein absoluter Eremit, aber es war die Rede von einem
Testament. Schließlich ging es letztlich ja um das kleine Haus. Der
Bürgermeister war schon besorgt, solle sich um die Kate irgendwer
kümmern, nur nicht die Gemeinde – es hieß von einigen Wenigen,
denen mal ein Blick ins Hausinnere gelungen war, es sei voller
Manuskripte, Ordner, Bücher und Tagebücher – alles
unveröffentlicht, natürlich. Romanzyklen: Stapel von beschriebenem
Papier, bis an die Decke, jeden Winkel nutzend. Es seien aber auch
Tagebücher vom 17. Lebensjahr an vorhanden, hatte er mal verlauten
lassen – und nun war er 87 geworden. Ergiebige Jahre waren mit
mehreren Bänden belegt. Uferlos.
Zur
Testamentseröffnung waren Bürgermeister und Verlagsleiter in die
Kreisstadt geladen. Was das wohl bedeuten sollte. Es wurde kurz und
schmerzlos vom hochangesehenen Notar eröffnet: Das Gesamtwerk des
Dichters wurde großzügig der Gemeinde und dem örtlichen Verlag
vermacht, das war die großmütige Geste des verkannten Genies – er
glaubte unbeirrt zuversichtlich an die Entdeckung nach seinem Tode,
wie er beschwörend in seinen letzten Worten ausgeführt hatte. Nun
war es also geschehen, man hatte den Salat. Das war zwar irgendwie
auch zu befürchten gewesen, nur wahrhaben wollte das der Gemeinderat
mitnichten. Und die Öffentlichkeit war unerhört schnell im Bilde
(man munkelte, da habe die Opposition die Hände im Spiel gehabt, die
örtliche Presse berichtete unverzüglich). Ruckzuck war man sich
einig – das ganze Material gehöre in fachliche Hände: alle
zeigten auf das einzige Gemeinderatsmitglied mit Erfahrung: Der, der
einen Verlag führte, der solle sich natürlich kümmern, es wurde
ihm sogar als Ehre mit Nachdruck sehr, sehr nahegelegt. Und da sich
alle einhellig so rührig ihm zuwandten, dagegen war er allein
machtlos. Es mußte nicht ausgesprochen werden, man kannte sich seit
Jahr und Tag sehr gut – ein Ausschlagen der Erbschaft wäre einem
Selbstmord gleichgekommen. Kurzzeitig kursierten Gerüchte über
einen kontrollierten Brand – aber diese Papiermengen, das wäre
einem Moorbrand gleich gekommen – und nicht auszudenken, wenn es an
die große Glocke überregional geriet – Bücherverbrennung, das
sind wir also mal wieder – und damit verbunden der Namen dieser
kleinen Stadt, die sich mit einem solchen Ruf völlig ins Aus
manövrieren würde. Nicht auszudenken.
Man
hatte eine Ortsbesichtigung anberaumt, eine hochinteressante Aktion;
alle konnten nicht zugleich hinein in das vollgestopfte Haus, man
ging in Dreiergruppen – und guter Rat war schnell sehr teuer, so
die Krämerseelen. Klamm das Stadtsäckel, aber man sei, das war im
Handundrehen mit nur einer Gegenstimme beschlossen, durchaus bereit,
Gemeindearbeiter zu beauftragen, alles ausräumen zu lassen. Jeder
hatte etwas anderes beim artistischen Slalomgang durch die Bruchbude
bemerkt: Ein Zimmer allein mit Kladden und Tagebüchern bis zur Zeit
der EDV und, völlig klar, bis zur Zimmerdecke – ab dann war
immerzu ausgedruckt worden, kleine Flure, als solche kaum noch
erkennbar, völlig zugestellt. Dem Schriftsteller waren jede
Stellungnahme, Antwort und vor allem die Absagen (die er mit
weitschweifiger Empörung kommentiert hatte) wichtig – alles war
archiviert, in Ordnern, jedes Jahr verschlang Berge von Papier, die
Reihen der Ordner waren säuberlich geführt und akkurat beschriftet
– alles hatte seine Ordnung – immerhin. Und die Vielzahl der
unveröffentlichten Bücher, in vielen neuen Überarbeitungen.
Überall im Haus, absolut überall, vom Dach bis zum Keller.
Jovial
tätschelte der Bürgermeister die eingesackten Schultern des
Verlagsmenschen – also kein Problem mit der Übersicht – alles
sei doch angenehm vorbereitet – das werde schon: die Gemeinde sei
stolz auf das vermachte Werk (der Druckereibesitzer verstand es als
„Machwerk“, aber dieser persönliche Anflug in Gedanken half ihm
auch nicht). Und immerzu alles schriftlich ausladend geschildert und
beschrieben, was er über seinen sprachlosen Gott und die undankbare
Welt dachte. Weitschweifige Verrisse zu Bestsellern auf dem
Literaturmarkt, mitunter ausführlicher als die zugrundeliegenden
literarischen Anlässe. Was er über „Was-auch-immer“ dachte –
Assoziationen unüberschaubaren Ausmaßes. Alle gingen davon aus, daß
es bei ihm in den richtigen Händen sei – das werde schon, man
freue sich, wenn doch wenigstens ein Teil der großen Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werde: also gedruckt. Völlig überzeugte
Einigkeit herrschte.
Der
Verleger war am Boden, mental, das hätte so nicht laufen dürfen,
aber es gab für ihn kein Entkommen – zu mächtig der
ortspolitische Druck, der erdrückende Rahmen. Tagelang schleppten
städtische Bedienstete wahre Berge von beschriebener Schwerlast in
die von der Stadt vermittelten bereitgestellten Container:
wohlwollend hatte die Gemeinde sogar die Regale in den Großbehältern
errichtet – alles für die Übersicht. Man tue, was man könne, um
es dem Verlag zu erleichtern. Das sei doch selbstverständlich!
Nun
gut, der Stellplatzbereich einer Spedition war zu einem Vorzugspreis
angemietet worden, und dort stand nun der Nachlass (also die befüllte
Containergruppe).
Die
Gemeinde hatte recht bald eine vielköpfige Asylantenfamilie in das
entleerte kleine Haus einquartiert, es schien alles in trockenen
Tüchern. Doch leider wurde der kleine Verlag mit diesem großen
Problem alleingelassen. Schon nach Monaten zwickten die eingehenden
Rechnungen für Container und Stellplatz den Verlag. Die Gemeinde
konnte nun aber wirklich nicht noch mehr tun – was habe man nicht
schon alles an Hilfe geboten. Hilfe zur Selbsthilfe – einfach mal
Bücher machen – fertig!
Der
Verleger wurde schräg bemustert – so gar nichts lief an Gedrucktem
vom Band, was er sich denn so habe – das könne doch nun wirklich
nicht so schwer sein. Das sei doch nun mal sein Beruf,
Herrschaftszeiten.
Er
wagte nicht zu jammern, aber der Verlag ging den Bach runter – nach
einigen Jahren mußte er die Insolvenz anmelden. Die Gemeinde konnte
den Lagerpreis drücken, zu zahlen hatte sie letztlich doch.
Und
wieder hatte man mit dem großen Sohn der Stadt, auf den man so
zählte, ein Folgeproblem.
Die
Geschichte wird weitergehen, irgendwann, kommt Zeit kommt Rat. Wieso,
eigentlich, setzte man sich nicht mal mit dem Geburtsort des Dichters
in Verbindung?
(Ich
versichere, es handelt sich nicht um die Ortschaft, in der ich lebe –
wir haben hier nämlich keinen…Verlag.)