Sonntag, 10. Februar 2019

Erben ist nicht alles

Nachlaß – laß nach
(oder: Die Rache des verschmähten Dichters)
Nun stelle ich mir eine kleine Stadt vor – sind Sie dabei? Wenige Künstler, Kunsthandwerk schon, aber  professionelle Musikanten, nein, nur zwei öffentlich bekannte Malende, ein Bildhauer mit Rheuma, sonstige Volkshochschulabsolventen für allerlei obskure Fertigkeiten. Doch – irgendwo in einem Hutzelhäuschen am Ortsrand, der Ortsdichter, verkannter Schriftsteller, bemühter Autor. Der einzige ortsansässige Verlag hatte stets abgewiegelt, nein, bloß nicht, selbst wenn für ihn ein Preis von der Kommune erfunden und verliehen würde, nein, wirklich nicht. Kein Buch. Niemals! Man hatte sich im Laufe der Zeit eh auf Informationsheftchen, handliche Werbebroschüren, großformatige Hochglanzreklamen und so weiter spezialisiert, Einladungen, Menükarten, Festschriften. Aber Bücher, das ging früher mal, also wirklich ganz früher, aber heute – nein, das bedeutet nur enorme Investition – und daß diese wieder reinkommen: eher wie eine Lotterie, hatte der Verlagschef dem Bürgermeister erklärt. Es war kein Thema. Der Mann des bedruckten Papiers hatte sich zu schützen gewußt.
   Der Ortsautor verstarb in hohem Alter, keine Nachkommen, keine Angehörigen, ein absoluter Eremit, aber es war die Rede von einem Testament. Schließlich ging es letztlich ja um das kleine Haus. Der Bürgermeister war schon besorgt, solle sich um die Kate irgendwer kümmern, nur nicht die Gemeinde – es hieß von einigen Wenigen, denen mal ein Blick ins Hausinnere gelungen war, es sei voller Manuskripte, Ordner, Bücher und Tagebücher – alles unveröffentlicht, natürlich. Romanzyklen: Stapel von beschriebenem Papier, bis an die Decke, jeden Winkel nutzend. Es seien aber auch Tagebücher vom 17. Lebensjahr an vorhanden, hatte er mal verlauten lassen – und nun war er 87 geworden. Ergiebige Jahre waren mit mehreren Bänden belegt. Uferlos.
   Zur Testamentseröffnung waren Bürgermeister und Verlagsleiter in die Kreisstadt geladen. Was das wohl bedeuten sollte. Es wurde kurz und schmerzlos vom hochangesehenen Notar eröffnet: Das Gesamtwerk des Dichters wurde großzügig der Gemeinde und dem örtlichen Verlag vermacht, das war die großmütige Geste des verkannten Genies – er glaubte unbeirrt zuversichtlich an die Entdeckung nach seinem Tode, wie er beschwörend in seinen letzten Worten ausgeführt hatte. Nun war es also geschehen, man hatte den Salat. Das war zwar irgendwie auch zu befürchten gewesen, nur wahrhaben wollte das der Gemeinderat mitnichten. Und die Öffentlichkeit war unerhört schnell im Bilde (man munkelte, da habe die Opposition die Hände im Spiel gehabt, die örtliche Presse berichtete unverzüglich). Ruckzuck war man sich einig – das ganze Material gehöre in fachliche Hände: alle zeigten auf das einzige Gemeinderatsmitglied mit Erfahrung: Der, der einen Verlag führte, der solle sich natürlich kümmern, es wurde ihm sogar als Ehre mit Nachdruck sehr, sehr nahegelegt. Und da sich alle einhellig so rührig ihm zuwandten, dagegen war er allein machtlos. Es mußte nicht ausgesprochen werden, man kannte sich seit Jahr und Tag sehr gut – ein Ausschlagen der Erbschaft wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Kurzzeitig kursierten Gerüchte über einen kontrollierten Brand – aber diese Papiermengen, das wäre einem Moorbrand gleich gekommen – und nicht auszudenken, wenn es an die große Glocke überregional geriet – Bücherverbrennung, das sind wir also mal wieder – und damit verbunden der Namen dieser kleinen Stadt, die sich mit einem solchen Ruf völlig ins Aus manövrieren würde. Nicht auszudenken.
   Man hatte eine Ortsbesichtigung anberaumt, eine hochinteressante Aktion; alle konnten nicht zugleich hinein in das vollgestopfte Haus, man ging in Dreiergruppen – und guter Rat war schnell sehr teuer, so die Krämerseelen. Klamm das Stadtsäckel, aber man sei, das war im Handundrehen mit nur einer Gegenstimme beschlossen, durchaus bereit, Gemeindearbeiter zu beauftragen, alles ausräumen zu lassen. Jeder hatte etwas anderes beim artistischen Slalomgang durch die Bruchbude bemerkt: Ein Zimmer allein mit Kladden und Tagebüchern bis zur Zeit der EDV und, völlig klar, bis zur Zimmerdecke – ab dann war immerzu ausgedruckt worden, kleine Flure, als solche kaum noch erkennbar, völlig zugestellt. Dem Schriftsteller waren jede Stellungnahme, Antwort und vor allem die Absagen (die er mit weitschweifiger Empörung kommentiert hatte) wichtig – alles war archiviert, in Ordnern, jedes Jahr verschlang Berge von Papier, die Reihen der Ordner waren säuberlich geführt und akkurat beschriftet – alles hatte seine Ordnung – immerhin. Und die Vielzahl der unveröffentlichten Bücher, in vielen neuen Überarbeitungen. Überall im Haus, absolut überall, vom Dach bis zum Keller.
   Jovial tätschelte der Bürgermeister die eingesackten Schultern des Verlagsmenschen – also kein Problem mit der Übersicht – alles sei doch angenehm vorbereitet – das werde schon: die Gemeinde sei stolz auf das vermachte Werk (der Druckereibesitzer verstand es als „Machwerk“, aber dieser persönliche Anflug in Gedanken half ihm auch nicht). Und immerzu alles schriftlich ausladend geschildert und beschrieben, was er über seinen sprachlosen Gott und die undankbare Welt dachte. Weitschweifige Verrisse zu Bestsellern auf dem Literaturmarkt, mitunter ausführlicher als die zugrundeliegenden literarischen Anlässe. Was er über „Was-auch-immer“ dachte – Assoziationen unüberschaubaren Ausmaßes. Alle gingen davon aus, daß es bei ihm in den richtigen Händen sei – das werde schon, man freue sich, wenn doch wenigstens ein Teil der großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werde: also gedruckt. Völlig überzeugte Einigkeit herrschte.
   Der Verleger war am Boden, mental, das hätte so nicht laufen dürfen, aber es gab für ihn kein Entkommen – zu mächtig der ortspolitische Druck, der erdrückende Rahmen. Tagelang schleppten städtische Bedienstete wahre Berge von beschriebener Schwerlast in die von der Stadt vermittelten bereitgestellten Container: wohlwollend hatte die Gemeinde sogar die Regale in den Großbehältern errichtet – alles für die Übersicht. Man tue, was man könne, um es dem Verlag zu erleichtern. Das sei doch selbstverständlich!
   Nun gut, der Stellplatzbereich einer Spedition war zu einem Vorzugspreis angemietet worden, und dort stand nun der Nachlass (also die befüllte Containergruppe).
   Die Gemeinde hatte recht bald eine vielköpfige Asylantenfamilie in das entleerte kleine Haus einquartiert, es schien alles in trockenen Tüchern. Doch leider wurde der kleine Verlag mit diesem großen Problem alleingelassen. Schon nach Monaten zwickten die eingehenden Rechnungen für Container und Stellplatz den Verlag. Die Gemeinde konnte nun aber wirklich nicht noch mehr tun – was habe man nicht schon alles an Hilfe geboten. Hilfe zur Selbsthilfe – einfach mal Bücher machen – fertig!
   Der Verleger wurde schräg bemustert – so gar nichts lief an Gedrucktem vom Band, was er sich denn so habe – das könne doch nun wirklich nicht so schwer sein. Das sei doch nun mal sein Beruf, Herrschaftszeiten.
   Er wagte nicht zu jammern, aber der Verlag ging den Bach runter – nach einigen Jahren mußte er die Insolvenz anmelden. Die Gemeinde konnte den Lagerpreis drücken, zu zahlen hatte sie letztlich doch.
   Und wieder hatte man mit dem großen Sohn der Stadt, auf den man so zählte, ein Folgeproblem.
   Die Geschichte wird weitergehen, irgendwann, kommt Zeit kommt Rat. Wieso, eigentlich, setzte man sich nicht mal mit dem Geburtsort des Dichters in Verbindung?


(Ich versichere, es handelt sich nicht um die Ortschaft, in der ich lebe – wir haben hier nämlich keinen…Verlag.)


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