Unser erster ehelicher Weihnachtsbaum
Es war uns völlig klar, daß wir die Kinderschuhe ausgezogen hatten
– was sollten wir als junges, modernes Paar mit einem ‚Weihnachtsbaum’? Kaum
zwei Monate verheiratet, und schon sollten wir die alten Hüte aufsetzen? Nein,
nein, bei uns nicht, wenn es auch bei den Eltern all die Jahre so geblieben war.
Die Feiertage näherten
sich bedrohlich. Der Tag der Wahrheit, der Heiligabend hatte fast zwölf Uhr
erreicht, und das bevorstehende Fest erfüllte einfach alles; war zu schmecken,
zu riechen und allüberall zu sehen – doch letztlich, es fehlte etwas, es fehlte
bei uns in der kleinen modernen Wohnung etwas – und auf einmal wurde es uns
sonnenklar …. zum Kuckuck, ein Baum mußte her!
Nun bin ich ja als junger
Ehemann verpflichtet, die lebenswichtigen Dinge draußen auf der Jagd zu
erlegen, an den heimischen Herd zu schleppen. Auf ins Gefecht, ermunternde
Worte im Genick „manche Läden haben sogar bis vierzehn Uhr auf“ trabte ich los,
zuversichtlich hin zur Bushaltestelle, an der gerade der letzte planmäßige
Bazillenbehälter abfuhr, direkt vor meiner Nase, rücksichtslos meine irre
Armwedelei mißachtend. Na gut, wofür hatte ich Laufen gelernt, im Schnellschritt
auf zur Innenstadt, sie ist nur eine halbe Stunde entfernt.
Überall bepackte Menschen,
die hinaus in die Vororte rannten, nur ich lief noch in die andere Richtung,
hinein in die Stadt. Egal, dafür hätte ich keine Konkurrenz, wenn es zum Feilschen
um das Beste der Reste kommt – was wollen die auch an Ostern mit Weihnachtsbäumen?
Ach ja, geschmückt werden mußte er ja auch noch, Kugeln, Lametta, ein wenig
Watte, und in einen Ständer mußte er hinein. Und was ist ein Baum ohne
Beleuchtung? Nichts. Alles brauchte ich also, rundum die Erstausstattung. Nun
ja, woher sollten wir das Zeug auch haben, aber dreiundzwanzig Vasen zur
Hochzeit geschenkt bekommen!
Ins erstbeste Kaufhaus
hinein, es war noch geöffnet. Alles strömte heraus, ich hinein. Die Stände mit
dem Weihnachtsbaumzubehör waren direkt im Eingangsbereich, von restlicher Kundschaft
umsäumt. Wie praktisch, sicherlich mit Preisstürzen gesegnet!? Haufenweise
Lametta, elektrische Lichtersätze, mindestens noch einhundert, richtig
gestapelt – und die Narren kaufen alles schon Wochen zuvor! Halt, oh nein,
nicht mit mir, erst mal Preise vergleichen, denn als Angebot ist nichts
deklariert. Wer sagt mir denn, daß gerade dies hier die für mich richtige und
vor allem günstigste Ware ist? Da bleibe ich gelassen, oh ja.
Ein Lauf über die Straße,
hinein in den nächsten Betonbunker, doch hier sah es schon erheblich dürftiger
aus, die räumten auch schon zusammen! Und es verblieben Schrott und Tand,
zersprungene Kugeln, geknickte Baumspitzen, ein schiefer Ständer – das könnt Ihr
in den Abfall bringen! Ich rannte weiter.
Mit einem Mal fiel mir
ein, daß die Zeit drängte – und es war an der Zeit, Entscheidungen zu treffen,
viel Herumgelaufe brachte nichts mehr – kurzentschlossen zurück in den ersten
Laden – den Baum brauchte ich schließlich auch noch!
Ich eilte zurück – kaum
noch Gegenströmung im Eingang und mein Blick fiel unverstellt in den Bereich
des Weihnachtsbazars – vorhin gab es den noch. Ein paar Kartons mit Lichtern,
die gerade den Besitzer wechselten, ich griff sofort zu und hatte auch noch
einen. Weiter zum Lametta – nichts mehr. Kugeln – Fehlanzeige, nur noch
Trümmerreste. Bei den Ständern – auch nichts mehr!
Die Verkäuferin kam auf
mich zu und meinte, sie müßten jetzt schließen und außerdem seien die noch
verbliebenen Reste ohnehin nur noch Bruch. Richtig, ich sah in die Schachtel
und erkannte, alles war schadhaft. Auch in den anderen Kartons, nur Abfall. Ratlos
schaute ich das Mädchen an. „Das ist jedes Jahr so, das ist einkalkuliert.“
Damit war ich vor der
Tür. Was sollte ich nun tun? Im Laden gegenüber hatten die schon alles
zusammengekehrt. Wenn ich da mal in den Container schaue, hiervon was und dies
und das – ein eigenes Sortiment sozusagen, und ganz, ganz preiswert ….
Gedacht, getan – nur war
ich da nicht allein. Doch der Stadtstreicher hatte anderes zu tun. „Wohl ganz
neu im Geschäft, wie?“ Er stank erbarmungslos nach Fusel, zog langsam und
übertrieben sich umschauend eine Flasche aus der Mantelinnentasche und reichte
sie mir. „Trink erst mal was, Junge“, wisperte er verschwommen, musterte mich
dabei mißbilligend und meinte geringschätzig „hast noch viel zu lernen, so wie
Du aufziehst, leierst Du keinem ’ne Mark aus der Tasche – schmeiß Dich mal zu
Boden, reiß ein paar Knöpfe ab,
verdrecke wenigstens die Hemdärmel und reib an der Mauer dort entlang –
jetzt ist Hochkonjunktur, Menschenskind!“
Ich wich ihm aus, indem
ich im Müllbehälter herumfischte, und schon fand ich ihn – den verbogenen
Ständer! Der war absolut Spitzenklasse; nur ein wenig geradebiegen, vielleicht
in den Schraubstock und mit dem Hammer drauf … und zerbrochene Kerzen in Hülle
und Fülle, lauter Stücke, alle Farben, herrlich schöne Bruchstücke.
„Willst wohl handeln,
wie, Du Pinkel Du!“ Er war noch über das Verschmähen seiner Flasche erbost,
ruderte wild in meine Richtung. Ich lief freudig mit meinen ersten
Anschaffungen davon, nicht, ohne ihm noch eine Mark zuzuschnippen. Ich tat ihm leid.
Was brauchte ich noch?
Lametta? Alles Quatsch, warum auch, von Hand angespitzte bunte Kerzenfragmente,
das könnte der letzte Schrei sein, hoffte ich, wild auf einem Baum drapiert
…der Baum!!! Wo ist mein Baum? Ich hatte ihn glatt vergessen.
Beim großen Autoparkplatz
räumte ein Händler gerade pfeifend die letzten Ungetüme auf einen
Pritschenwagen. „Halt“, rief ich, „ich brauche noch einen Baum!“
„Nix mehr da, nur noch
die Reste von den längeren, deren Spitzen verkauft sind. Aber wie wäre es mit
ein paar wunderschönen Zweigen?“ Na, der Kerl hatte Nerven! Ich wehrte dankend
ab, erst drei Meter Baum verkaufen, dann einen Meter absägen, mitgeben, und
jetzt noch die Äste von den restlichen zwei Metern verhökern. Miese
Geschäftspraktiken, da wand ich mich höhnisch ab.
Ich wetzte, mit wankenden
Jackentaschen voller Kerzenmüll an den Hüften, den Baumständer in einer
Plastiktüte zudringlichen Blicken entzogen, über einige Kreuzungen und
entdeckte schließlich noch bei einer älteren Frau Zweige von Blautannen,
weiteres Tannengrün hochgetürmt und da, ganz am Rande, zwei Bäumchen, ein wenig
entnadelt vielleicht, doch nicht schlecht, sicherlich. Ich ging betrachtend
darauf zu, plötzlich von links ein Huschen – und zack, ein Baum war fort. Ich
beabsichtigte, aus der Hüfte den Zuschlag für den anderen zu erteilen, aber
auch zu spät. Da wurde mein Blick frei auf den Allerletzten, unerkannt hinter
den Ästen lag er, und das war er dann auch – unser Baum, der allerletzte
wahrlich. Eher eine Skulptur von Joseph Beuys, völlig entstellt, nur als Kunst
einschätzbar, wie vom Unheil geschlagen. Ein Horror in Grün. Oh nein, nur den
nicht.
„Das ist der letzte“,
krächzte die alte Stimme, das brauchte sie nun wirklich nicht zu betonen. „Aber
den werde ich wohl auch noch los“, meinte sie zuversichtlich. Schon sah ich
einen Typ mit Hut tief ins Gesicht gezogen in meiner Nähe stehen bleiben. Ich
reagierte sofort. „Ich nehme ihn!“ schrie ich, die Gunst der Stunde ahnend,
„den nehme ich, keine Frage, den habe ich gesucht!“ Das war absolut
überflüssig, die Alte kassierte die fünf Märker und ich stolzierte an dem
Kontrahenten vorbei, den Baum an ausgestreckter Hand.
„Ist alles gelaufen – wie
viel haben wir eingenommen?“ hörte ich noch meinen vermeintlichen Widersacher
hinter meinem Rücken die Olle befragend, aber das war mir jetzt auch wurscht,
auf zur Bushaltestelle. Glück gehabt, da kam noch einer für die Vorortlinie.
Die Tür ging auf, ich wollte hinein.
„Mit Baum, oder was das da
ist – das geht nicht“, schnarrte mich
die Busfahrerstimme an, die Tür flog sofort wieder zu.
So ging ich denn, nicht
unbedingt eilig, meinen Weg Richtung Zuhause, als mich eine Horde Kinder
überholte, umkehrte, mich umlief und grölend ob meines Baumes feixte: „Schaut
mal, was für eine Vogelscheuche! He, ist der vom Hochhaus gefallen? Für was ist
das Monstrum gut – schon für Ostern, zum Eier abschrecken?“
Auch dieser Spaß hatte
ein Ende, ich strafte sie mit Mißachtung, sie konnten ohnehin nicht verstehen,
was einen erwachsenen Menschen für Sorgen plagen. Als sie sich verkrümelt
hatten, warf ich in einem Anfall von Hochmut den Baum in eine Mülltonne, knickte
noch die Spitze großzügig ab und ging deprimiert davon. Verdammte Bande.
Ein alter Mann huschte an
mir vorbei und ich dachte noch, wo will der jetzt hin, als der kurz darauf
strahlend und mir auf die Schulter klopfend von hinten an mir vorbeieilte.
„Wissen Sie was, denke ich doch, kriegst keinen mehr, total versäumt bei all
dem Weihnachtsrummel, da hat doch so ein Rohling dieses zarte Bäumchen in eine
Tonne gesteckt! Was für Barbaren es gibt, na ich sag Ihnen, mir soll es recht
sein, das ist meine Rettung für daheim – ein wenig die Spitze stützen, das wird
schon gehen.“
Er wartet keine
Kommentierung von mir ab, ich hatte ohnehin nichts dazu zu sagen. Was hätte ich
dafür gegeben, so eine Freude zu verspüren.
Daheim wurde ich
erwartungsvoll angeschaut, die Enttäuschung
stellte sich sofort ein. „Ich hole ja noch den Baum, alles auf einmal
war zu schwer, der ist oben an der Ecke geblieben“, beschwichtigte ich.
Vielleicht könnte ich das nachher als Diebstahl fortspinnen … jedenfalls ging
ich, nachdem ich meine Taschen entleert hatte, wieder fort, meine junge Frau
mit sorgenvollem Blick hinter mir wissend, die bunten Kerzenteile erkennend,
den verbogenen Ständer beäugend …das will erst alles einmal verkraftet werden,
das hatte ich auch schon hinter mir.
Nun geriet ich auf den Kurs, mich entschlossen
auf andere Art und Weise eines Baumes zu bemächtigen, denn den Diebstahl
vorschützen, das paßt nicht zu Weihnachten. Ich war auf dem WC, hatte aus der
Werkzeugkammer daneben die Axt geholt – ein Baum mußte
her! Und der Wald war nicht fern. Wenn ich daran denke, wie ich das als Junge
schon immer geplant hatte, so richtig abenteuerlich das grüne Ding erlegen! Da
war aber mit meinen Eltern nicht zu reden. Jedes Jahr der Gang mit Mutter zum
Händler neben dem Ortsimbiß, und Mutter stukte dann immer die Bäume auf den
Boden, um zu sehen, ob sie schon nadelten, und das taten sie auch und der Typ erregte
sich auch immer höllisch „hören Sie bloß auf, wenn das jeder machen würde!“,
was wir ignorierten. Nun wollte ich sichergehen, so frisch wie keiner sollte
unser Baum sein!
Kaum war ich dem Wald
nahe, als auch schon der Förster mit einem anderen Mann aus dem Wald kam. Den
hatte er erwischt, der trug einen Baum und die Axt. Also: höchste Vorsicht, er
könnte zurückkommen. Die Jacke zurrte ich freundlich grüßend über der Axt
zusammen. Und wie ich so tiefer in den Wald hineinlief, viel weiter als
geplant, Haken schlug, mich durch Dickicht und fern aller Wege fortbewegte, da
wurde es schon neblig und ich freute mich, an die Taschenlampe gedacht zu
haben. Doch Vorsicht, es mußte alles gut überlegt sein. Also: Baum kappen,
verstecken, mit dem Seesack holen und nach Hause schaffen. Viel Zeit blieb mir nicht
mehr. Endlich erreichte ich eine Schonung, herrliche Bäumchen ragten vor mir
auf, unzählige. Ich schaute mich um und verschwand blitzschnell im Unterholz.
Dann holte ich die Axt heraus und nahm an einem schönen geeigneten Gewächs Maß.
Ich holte gerade aus, als es in mir sprach: „Denk an Weihnachten, aber nicht
so, damit ruinierst Du das Fest!“ Unsinn, ich höre doch bis hierher die Äxte
schlagen! „Tu es nicht, es wird Euch niemals bekommen!“ Aber ich bin jetzt
soweit gegangen, ich schrecke nicht mehr vor dem letzten Schritt zurück. Und es
sind doch auch so viele da …
Und dann hatte ich mich
doch überreden lassen, ließ die Axt sinken, ich glaube, das Bäumchen lächelte,
nun traute ich mich auch, die Taschenlampe wieder anzuknipsen und machte mich,
den Kopf voller Beteuerungsübungen, auf den Weg an den häuslichen Herd.
Als ich die Siedlung
ereichte, waren überall bunte Lichter hinter den Fenstern angegangen, aus allen
Häusern schimmerten die erleuchteten
Bäume der Wohnstuben und von Vorgärten, mancherorts wurde bereits gesungen –
und ich hatte noch einige Meter, bevor ich
was zu Hören bekam. Angekommen schellte ich zaghaft, dann stellte ich die Axt
beiseite, klingelte energischer und voller Ungeduld. Ich wollte alles hinter
mich bringen.
„Verzeih mir“, wollte ich
schon flehentlich in die Welt hinausposaunen, als ich Schritte und Schleifen
hinter mir vernahm.
Da kam sie, mein liebend Weib, emsig einen
Koloß von Fichte hinter sich her zurrend. „Wo warst Du?“ fragte ich unglücklich
und noch ohne Erkennen der nahenden Rettung, die sie vor mir keuchend
aufrichtete.
„Ein paar Straßen weiter
bei den Großeltern“, sagte sie ganz lapidar, „ich dachte, wozu stellen die
jedes Jahr einen in die Wohnstube und auch noch einen ins Treppenhaus für die
baumlosen Mietparteien. Die schauen doch ohnehin nicht darauf und eilen mit
Besorgungen und in Geschäftigkeit achtlos daran vorbei. Da habe ich gedacht,
wer zwei hat gebe denen einen, die keinen haben – und jetzt haben wir auch
einen. Und Du hast ja doch keinen, nicht wahr?“
Wie Recht sie hatte. Gut,
nicht unter einem geklauten Baum zu sitzen. Nur ein geschnorrter, das geht in
Ordnung, finde ich. Gut, er hatte schon länger in der Wärme gestanden und die
Nadelspur war im Hof deutlich sichtbar, aber es war ein Christbaum, unser
erster ehelicher Weihnachtsbaum. Es war der beste, den wir kriegen konnten, und
so recht besonnen war es auch der schönste, den wir je hatten. (1978)