Kopf hoch, Ossis: Auch
Wessis sterben aus!
- Bilder, die im Kopf bleiben, Teil 2 –
Die Mauer fällt
Ich war im
Autorenverband, gehörte zeitweise dem Vorstand an. Wir hatten sehr viele
Mitglieder aus dem östlichen Teil Deutschlands in unseren Reihen, Lehrer, Journalisten
und viele andere mehr. Sie hatten allen Grund zu erzählen, wie es ihnen drüben
ergangen war. Ich erfuhr aus erster Hand von den Schicksalen, den Schikanen,
dem Berufsverbot, dem Kaltstellen, dem Ausgrenzen, von Flucht und Austausch.
Ich wußte von den vielen Toten, die die Mauer zu verantworten hatte: Menschen,
an der Mauer von Landsleuten erschossen! Ich hörte von verratenen Bürgern, die
ein drangsaliertes Dasein gefristet hatten.
Die Mauer fiel, letztlich irgendwie
überraschend, und umgehend hatte unser Vorsitzender ein Wartburg-Treffen
arrangiert. Westdeutsche Autoren trafen solche von dort. Ich lernte nun sehr
viele andere Leute kennen. Ganz andere. In der riesigen Runde mit um die
einhundert Schreibenden war alles vertreten, was die Psychologie hergibt.
Besserwisser – und zwar auf beiden Seiten, Schleimer und Wendehälse, unbeugbar
Halsstarrige, die sich sofort in verbale Kämpfe begaben und hochnäsige Paroli-Bieter
von uns, die ihnen klar zeigten, wo es in Zukunft langgehen wird (von wegen „wo
bekommt man jetzt Schreibaufträge“ – wir lachten herzlich). Ex-Majore, die um
Anerkennung buhlten, Dissidenten, die auf Klarstellung und letztlich Abrechnung
beharrten - die erlittenes Unrecht anzuprangern verständlicherweise nicht müde
wurden. Gerade die konnte ich sehr gut verstehen. Ein Rudel westlicher
Lyrikerinnen trocknete angefaßt die geflennten Krokodils-Tränen eines reuigen
Militärpoeten (Vopo-Offizier!) aus einem der neu entstehenden deutschen
Bundesländer, vorgebend, nun ganz den Halt verloren zu haben. Irrwitzige
Szenen, die ich nie vergessen werde.
Mauerspechte verteilten Gesteinsbrocken,
Farbsprengsel darauf. Für im Westen wohnhaft gewordene Rübergemachte wie
Kleinode. Berührende Autorinnen erzählten von ihren Demos, zeigten unter echten
Tränen auf, was sie beherzt angegangen waren, was sie erreichten – WIR SIND DAS
VOLK – und so langsam gewann ich erste zaghafte Sympathien hinzu, eherne
Vorbehalte wurden brüchig, es begann das Zerlegen der inneren Mauer, und das
wird noch lange dauern. Wir brachten damals mit diesen Mitmenschen umgehend
eine gemeinsame Anthologie heraus. Es hatte etwas ganz Neues seinen Anfang
genommen. (Hach, und im Sport – erste Hochrechnungen für die zu erwartenden glänzenden
Medaillenspiegel!). So manch alteingesessener Nachbarn im Westerwald frotzelte:
„Und wo ist bitteschön mein Begrüßungsgeld?“
Nach den offiziellen Begegnungen trafen
wir uns privat, Spaziergänge zu Füßen der Burg in tiefstem Schnee, und bei den
weiteren Wartburg-Treffen in den Folgejahren auf einmal die ersten Farbtupfer
unserer freien Welt! In dem Städtchen Eisenach bereits im Folgejahr, noch aber
dominant grau in grau, weiterhin auch stinkig-qualmig die Luft durch die lärmigen
Autos dort. Die Stadtbilder änderten sich mit zunehmender Geschwindigkeit –
hoffentlich bleiben die wundervollen Alleen erhalten, dachten wir Besucher.
Kleine Episode am Rande: Im Brentanohaus in
Winkel/Rheingau empfingen wir eine Bus-Delegation zum Gegenbesuch aus Anlaß
unserer gemeinsamen Anthologie. Wir stießen an und eine Lady des Ostens
schnarrte in ihrem Idiom, um kecke Verwegenheit bemüht: „Mit dem Auto sind Sie
da? Bei uns gilt ja die 0,0 Promille! Aber Besser-Wessis dürfen das hier ja
wohl.“ Und darauf ein befreundeter Professor: „Wieso diese Verdoppelung – Wessi
ist bessi!“ Arrogant, aber …herrlich. (Ungezählte solcher klingenscharfen
Bonmots gibt es zuhauf in meinen Tagebüchern. Aber ich will nun nicht
abschweifen.)
Ich war unterdessen öfters „drüben“, auch in
Stralsund, wo wir über einen neuen „Highway“ nahezu unbedrängt „hinüberglitten“,
indes der Soli unseren heimischen Straßenerhalt vergessen ließ. Tausenderlei
Dinge, die nicht so liefen, wie gedacht – aber was war das auch für eine
Umwälzung.
Wir sind nun immer mehr gewahr geworden, die
Menschen dort schauen weiterhin in die über sie angelegten STASI-Akten und
werden verständlicherweise nicht müde fassungslos zu staunen, was die lieben
Mitmenschen (Kollegen, Nachbarn, Familienmitglieder!) so nebenher betrieben:
Ausspähen, Abhören, der „informelle Mitarbeiter“ (IM) von nebenan, die
Verstrickungen unermeßlich. Wir lachen hier über Bananenwitze, wenn wir das
Gesächsel hören, deren typischen Abkürzungs-Fimmel, zum Piepen. Vorbehalte sind
zunächst einem abgründigen Humor gewichen. Es braucht seine Zeit. Wir wachsen
zusammen, ganz allmählich. Ich habe neue Wörter gelernt!
Schon bald die undankbaren Klagen, daß es
nichts sei mit den versprochenen „blühenden Landschaften“, immerzu war zu
vernehmen „Jetzt sind wir aber mal dran!“ – und natürlich die Wildwestler, die
geschäftstüchtig knallhart wirkten und sich bereicherten. Willkommen in der
Freiheit! Nicht alle kamen damit klar, das wächst sich aus (in Geschäften in
Stralsund schlug mir feindselige Haltung entgegen, ich fühlte mich an Holland
erinnert). Ich muß es leider immer noch sagen: Einer durchaus abweichenden
Arbeitsmoral begegne ich auch heute noch auf Schritt und Tritt (die
verräterische Sprache bezeugt es). Nein, gewiß, hier in den alten Bundesländern
ist nicht alles gut und vorbildlich – aber tauschen hätte ich zu keiner Zeit
mögen. Und meine Hochachtung gilt diesen beherzt aufmuckenden Menschen, die
friedlich den Umsturz erzwangen – eine ganz große Leistung! Nun kippt leider
manchmal die Betonung der Parole – das stolz proklamierte WIR SIND DAS VOLK ist
zu einem gesamtdeutschen „Wir sind ein Volk…“(Kopfschütteln) verkommen.
Ich war wiederholt in Berlin, habe von
jüngeren Menschen anhand Museums-Besuch mehr über den Alltag dort erfahren.
Kindheitserinnerungen, wie alles so gewesen ist. Verklärung auch dort. Ganz
parallel. Verständliche Nostalgie, spezielle Ostalgie. „Es war doch nicht alles
schlecht“ – nein, aber in der Nazizeit angeblich auch nicht.
Die materielle Mauer ist schnell gewichen,
die Mauer in den Köpfen kann nur durch Aussterben beseitigt werden – wir alle
tragen unsere Erfahrungen mit uns herum, ganz vorbehaltlos kann nicht alles
gelöscht sein. In keinem Kopf, hüben wie drüben. Es ist eine Frage des fairen
Umgangs: Und das ist auf beiden Seiten (ja, die gibt es noch) verbesserungswürdig.
Ich will gerne daran arbeiten, habe seit Jahr und Tag einer Flut liebenswerter
Menschen die Hand gereicht, aber vergessen möchte ich nichts. Und mir ist
völlig klar, ich war letztlich nur indirekt betroffen. Aber Betroffenheit ist
ein starkes, ein prägendes Gefühl.
Ach, ich hänge einfach noch mal den
zentralen Ausspruch aus meinem Lieblingsfilm an: Am Ende wird alles gut. Und wenn nicht alles gut ist, ist es auch noch
nicht das Ende.
Danke fürs
Lesen, und bitte stets beachten: ES SIND MEINE
Eindrücke.